Gewaltandrohung gegen mutmasslichen Kindesentführer durch die Polizei im Verhör: Konventionswidrige unmenschliche Behandlung, aber keine Auswirkung auf die Fairness des Strafverfahrens

Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), Straßburg, hat im Fall Gäfgen gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 22978/05) entschieden:

Verletzung von Artikel 3 (Verbot der Folter und unmenschlicher Behandlung),
keine Verletzung von Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) der Europäischen Menschenrechtskonvention

Zusammenfassung des Sachverhalts:

Der Beschwerdeführer, Magnus Gäfgen, ist deutscher Staatsbürger, 1975 geboren, und derzeit in der JVA Schwalmstadt in Haft.

Der Fall betraf in erster Linie die Beschwerde Herrn Gäfgens, dass er von der Polizei durch Androhung von Misshandlungen gezwungen wurde, den Aufenthaltsort von J., dem jüngsten Sohn einer bekannten Bankiersfamilie aus Frankfurt am Main, preiszugeben, und dass das anschließend gegen ihn geführte Strafverfahren nicht fair war. Im Juli 2003 wurde Herr Gäfgen wegen der Entführung und Ermordung von J. zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere seiner Schuld fest; der Beschwerdeführer kann folglich nicht erwarten, dass seine Restfreiheitsstrafe nach fünfzehn Jahren Haft zur Bewährung ausgesetzt wird.

Das elfjährige Kind hatte den Beschwerdeführer, der zur Tatzeit Jurastudent war, über seine Schwester kennengelernt. Am 27. September 2002 lockte der Beschwerdeführer J. in seine Wohnung, indem er vorgab, dass J.s Schwester dort eine Jacke vergessen habe. Dann erstickte er das Kind.

Anschließend legte der Beschwerdeführer eine Lösegeldforderung beim Haus von J.s Eltern ab, von denen er die Zahlung von einer Million Euro verlangte, um ihr Kind lebend wiederzusehen. Er ließ J.s Leiche unter dem Steg eines Weihers, eine Fahrtstunde von Frankfurt entfernt, zurück. Am 30. September 2002 gegen 1 Uhr nachts holte Herr Gäfgen das Lösegeld an einer Straßenbahnhaltestelle ab. Von diesem Moment an wurde er von der Polizei beschattet und einige Stunden später verhaftet.

Bei der Befragung des Beschwerdeführers am 1. Oktober 2002 drohte ihm einer der Polizeibeamten, dass ihm erhebliche Schmerzen zugefügt würden, wenn er weiterhin den Aufenthaltsort des Kindes verschwiege. Der Beamte handelte dabei auf Anweisung des Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei. Beide hielten diese Drohung für notwendig, da sie J.s Leben wegen Nahrungsmangels und der Kälte in Gefahr wähnten. Auf diese Drohung hin gab der Beschwerdeführer an, wo er die Leiche des Kindes versteckt hatte. Anschließend fuhr die Polizei mit dem Beschwerdeführer zu dem Weiher und stellte infolge seines Geständnisses weitere Beweise sicher, insbesondere Reifenspuren seines Autos und die Leiche des Jungen.

Zu Beginn der Hauptverhandlung gegen den Beschwerdeführer beschloss das Landgericht Frankfurt am Main, dass sämtliche Geständnisse, die er im Verlauf des Ermittlungsverfahrens gemacht hatte, im Verfahren nicht als Beweis verwendet werden dürften, da sie unter Verletzung von § 136a der Strafprozessordnung und Artikel 3 der Konvention durch Zwang erlangt worden waren. Demgegenüber ließ das Landgericht die Verwertung derjenigen Beweismittel im Strafverfahren zu, die infolge der vom Beschwerdeführer mittels Zwang erpressten Aussagen gefunden worden waren.

Der Beschwerdeführer wurde schließlich am 28. Juli 2003 des erpresserischen Menschenraubes und Mordes für schuldig befunden und zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Obwohl er zu Beginn der Hauptverhandlung über sein Recht zu schweigen belehrt worden war sowie darüber, dass alle seine früheren Aussagen nicht als Beweis gegen ihn verwendet werden dürften, gestand der Beschwerdeführer dennoch erneut, J. entführt und getötet zu haben. Die Tatsachenfeststellungen des Gerichts über das Verbrechen beruhten im Wesentlichen auf diesem Geständnis. Sie wurden zudem von anderen Beweismitteln untermauert: den infolge des ersten erpressten Geständnisses erlangten Beweisen, nämlich dem Obduktionsbericht und den Reifenspuren am Weiher sowie von weiteren Beweismitteln, die infolge der Beschattung des Beschwerdeführers erlangt wurden, seitdem er das Lösegeld abgeholt hatte.

Der Beschwerdeführer legte Revision zum Bundesgerichtshof ein, die dieser im Mai 2004 verwarf. Seine anschließend eingelegte Verfassungsbeschwerde nahm das Bundesverfassungsgericht am 14. Dezember 2004 nicht zur Entscheidung an. Es bestätigte allerdings die Feststellung des Landgerichts, dass die Bedrohung des Beschwerdeführers mit Schmerzen, um eine Aussage von ihm zu erpressen, eine nach innerstaatlichem Recht verbotene Vernehmungsmethode war und Artikel 3 der Konvention verletzte.

Im Dezember 2004 wurden die zwei Polizeibeamten, die an der Bedrohung des Beschwerdeführers beteiligt waren, wegen Nötigung im Amt bzw. Verleitung eines Untergebenen zur Nötigung im Amt verurteilt und verwarnt; die Verurteilung zu Geldstrafen wurde vorbehalten.

Im Dezember 2005 beantragte der Beschwerdeführer Prozesskostenhilfe, um ein Amtshaftungsverfahren gegen das Land Hessen zur Erlangung von Schadensersatz wegen seiner durch die Ermittlungsmethoden der Polizei erlittenen Traumatisierung einzuleiten. Das Landgericht wies den Antrag ab und im Februar 2007 wies das Berufungsgericht den Widerspruch gegen die Entscheidung mit der Begründung zurück, der Beschwerdeführer würde schwerlich einen Kausalzusammenhang herstellen können zwischen der Folterdrohung und dem vermeintlichen seelischen Schaden. Am 19. Januar 2008 hob das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Berufungsgerichts auf und verwies die Sache an das Landgericht zurück. Dabei stellte das Bundesverfassungsgericht insbesondere fest, dass die Abweisung des Antrags auf Prozesskostenhilfe gegen das Recht auf Zugang zu den Gerichten verstoße und dass es sich bei der Frage, ob die Verletzung der Menschenwürde des Beschwerdeführers die Zahlung von Schadensersatz erforderlich mache, um eine komplizierte juristische Fragestellung handele, die nicht in einem Prozesskostenhilfeantragsverfahren entschieden werden sollte. Das Hauptsacheverfahren vor dem Landgericht ist noch anhängig.

Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs:

Der Beschwerdeführer beklagte sich, dass er während seiner Befragung durch die Polizei der Folter unterworfen worden sei. Er trug weiterhin vor, dass sein Recht auf ein faires Verfahren durch die Verwendung von Beweismitteln in der Hauptverhandlung verletzt worden sei, die infolge seines durch Zwang erlangten Geständnisses sichergestellt worden waren. Er berief sich auf Artikel 3 und Artikel 6.

Die Beschwerde wurde am 15. Juni 2005 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Die Eltern von J. sowie die Menschenrechtsorganisation Redress Trust erhielten die Erlaubnis, als Drittparteien zu intervenieren.

In einem Kammerurteil vom 30. Juni 2008 urteilte der Gerichtshof mit sechs Stimmen zu einer, dass der Beschwerdeführer nicht mehr behaupten konnte, Opfer einer Verletzung von Artikel 3 der Konvention zu sein und dass keine Verletzung von Artikel 6 vorlag.

Am 1. Dezember 2008 wurde der Fall auf Antrag des Beschwerdeführers an die Große Kammer verwiesen. Am 18. März 2009 fand eine mündliche Verhandlung am Gerichtshof in Straßburg statt.

Entscheidung des Gerichtshofs

Artikel 3, gegen Artikel 3 verstoßende Behandlung

Nach den Feststellungen der deutschen Strafgerichte war der Beschwerdeführer von einem Polizeibeamten auf Anweisung des Vizepräsidenten der Frankfurter Polizei mit der Zufügung starker Schmerzen bedroht worden, um ihn zur Preisgabe des Aufenthaltsortes von J. zu zwingen. Diese unmittelbare Drohung mit vorsätzlicher Misshandlung musste beim Beschwerdeführer Angst und seelisches Leiden in erheblichem Ausmaß ausgelöst haben. Der Gerichtshof nahm zudem zur Kenntnis, dass der Polizeivizepräsident nach Feststellung der deutschen Gerichte seine Untergebenen mehrfach angewiesen hatte, Zwang gegen den Beschwerdeführer anzuwenden, seine Anweisung war folglich nicht als Kurzschlusshandlung sondern als vorsätzlich geplant zu bewerten.

Der Gerichtshof erkannte an, dass die Polizeibeamten von dem Bemühen getrieben waren, das Leben eines Kindes zu retten. Er unterstrich aber, dass das absolute Verbot unmenschlicher Behandlung völlig unabhängig vom Verhalten des Opfers oder der Beweggründe der Behörden gilt und keine Ausnahmen zulässt, nicht einmal wenn ein Menschenleben in Gefahr ist. Der Gerichtshof befand, dass die unmittelbaren Drohungen gegen den Beschwerdeführer im vorliegenden Fall mit der Absicht, Informationen zu erpressen, schwerwiegend genug waren, um als unmenschliche Behandlung im Sinne von Artikel 3 zu gelten. Unter Berücksichtigung seiner eigenen Rechtsprechung und den Einschätzungen anderer internationaler Institutionen des Menschenrechtsschutzes gelangte der Gerichtshof allerdings zu der Auffassung, dass die Verhörmethode, der der Beschwerdeführer unterzogen worden war, nicht einen solchen Schweregrad erlangt hatte, dass sie als Folter gelten könnte.

Der Opferstatus des Beschwerdeführers

Der Gerichtshof war überzeugt, dass die deutschen Gerichte, sowohl im Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer als auch in demjenigen gegen die Polizeibeamten, ausdrücklich und eindeutig anerkannt hatten, dass die Behandlung des Beschwerdeführers bei seinem Verhör gegen Artikel 3 verstoßen hatte.

Er stellte jedoch fest, dass die der Nötigung im Amt bzw. Verleitung eines Untergebenen zur Nötigung im Amt für schuldig befundenen Polizeibeamten nur zu sehr geringen Geldstrafen auf Bewährung verurteilt worden waren. Die deutschen Gerichte hatten eine Reihe von mildernden Umständen berücksichtigt, insbesondere die Tatsache, dass die Beamten in der Absicht handelten, J.s Leben zu retten. Der Gerichtshof erkannte zwar an, dass der vorliegende Fall nicht vergleichbar war mit Beschwerden über brutale Willkürakte von Staatsbeamten. Dennoch erwog er, dass die Bestrafung der Polizeibeamten nicht den notwendigen Abschreckungseffekt hatte, um vergleichbaren Konventionsverletzungen vorzubeugen. Zudem gab die Tatsache, dass einer der Beamten später zum Leiter einer Dienststelle ernannt worden war, Anlass zu grundlegenden Zweifeln, ob die Behörden angemessen auf den Ernst der Lage angesichts einer Verletzung von Artikel 3 reagiert hatten.

Im Hinblick auf eine mögliche Entschädigung für die Verletzung der Konvention nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass der Antrag des Beschwerdeführers auf Prozesskostenhilfe zur Einleitung eines Amtshaftungsverfahrens mehr als drei Jahre anhängig und dass in der Sache noch nicht über den geltend gemachten Entschädigungsanspruch entschieden worden war. Dies gab Anlass zu grundlegenden Zweifeln an der Effizienz des Amtshaftungsverfahrens.

Angesichts dieser Überlegungen war der Gerichtshof der Auffassung, dass die deutschen Behörden dem Beschwerdeführer keine ausreichende Abhilfe für seine konventionswidrige Behandlung gewährt hatten.

Der Gerichtshof kam daher, mit elf zu sechs Stimmen, zu dem Schluss, dass der Beschwerdeführer weiter beanspruchen kann, Opfer einer Verletzung von Artikel 3 der Konvention zu sein und dass eine Verletzung von Artikel 3 vorlag.

Artikel 6

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stellt die Verwertung von Beweismitteln, die unter Verletzung von Artikel 3 erlangt worden waren, die Fairness eines Strafverfahrens ernsthaft in Frage. Der Gerichtshof hatte folglich darüber zu befinden, ob im vorliegenden Fall das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer insgesamt unfair war, weil solche Beweismittel verwendet worden waren.

Der Gerichtshof stellte fest, dass der wirksame Schutz des Einzelnen vor Ermittlungsmethoden entgegen Artikel 3 es in der Regel erfordert, Beweismittel von einem Strafverfahren auszuschließen, die unter Verletzung dieses Artikels erlangt worden waren. Dieser Schutz und die Fairness des Verfahrens insgesamt stehen allerdings nur dann auf dem Spiel, wenn die unter Verletzung von Artikel 3 erlangten Beweismittel einen Einfluss auf die Verurteilung des Beschuldigten und auf das Strafmaß hatten.

Im vorliegenden Fall war aber vielmehr das neue Geständnis des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung – nach seiner Belehrung, dass alle seine früheren Aussagen nicht als Beweis gegen ihn verwendet werden dürften – die Grundlage seiner Verurteilung. Die angefochtenen Beweismittel waren folglich nicht erforderlich, um seine Schuld zu beweisen oder das Strafmaß festzulegen.

Im Hinblick auf die Frage, ob die Verletzung von Artikel 3 während der Ermittlungen einen Einfluss auf das Geständnis des Beschwerdeführers vor dem Strafgericht hatte, bemerkte der Gerichtshof, dass der Beschwerdeführer in der Hauptverhandlung unterstrichen hatte, dass er sein Geständnis freiwillig, aus Reue und um Verantwortung für sein Verbrechen zu übernehmen, ablege und dies trotz der Drohungen der Polizei gegen ihn während der Ermittlungen. Der Gerichtshof hatte folglich keinen Grund anzunehmen, dass der Beschwerdeführer nicht gestanden hätte, hätte das Landgericht zu Beginn der Hauptverhandlung die angefochtenen Beweismittel ausgeschlossen.

Im Angesicht dieser Überlegungen befand der Gerichtshof, dass die Entscheidung der deutschen Gerichte, die strittigen, unter Androhung von unmenschlicher Behandlung erlangten Beweismittel nicht auszuschließen, unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falles keinen Einfluss auf Urteil und Strafmaß hatte. Da die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers respektiert worden waren, musste das Verfahren im Ganzen als fair betrachtet werden.

Der Gerichtshof kam daher, mit elf zu sechs Stimmen, zu dem Schluss, dass keine Verletzung von Artikel 6 vorlag.

Artikel 41 (gerechte Entschädigung)

Der Beschwerdeführer stellte keinen Anspruch auf Entschädigung für einen materiellen oder immateriellen Schaden, sondern hob hervor, dass es das Ziel seiner Beschwerde war, ein neues Strafverfahren vor den deutschen Gerichten zu erhalten.

Da der Gerichtshof keine Verletzung von Artikel 6 festgestellt hatte, schlussfolgerte er, dass der Beschwerdeführer keine Grundlage dafür hatte, ein neues Strafverfahren oder die Wiederaufnahme seines Strafverfahrens zu beantragen.

(Quelle:  Pressemitteilung des EGMR, https://www.coe.int/t/d/menschenrechtsgerichtshof/ )